Der Mythos ist das alte Unheil, das uns Freude macht

„Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte“, notiert Goethe unter dem 13. März 1787. Mit dem Unheil, das den Nachkommen viel Freude gemacht hat, meint er den Untergang der Stadt Pompeji im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Gleiches kann man auch in Bezug auf die Inhalte der mythologischen Überlieferung sagen, wenn man bereit ist, unter die Geschehnisse der Welt auch die halb oder ganz erfundenen zu zählen. Im Mythos ist das älteste Unheil auf eine Weise konserviert, die uns Freude macht.

Virtutes paganorum splendida vitia

Wer auf eine gewisse, minimale Kontinuität im Hinblick auf die antiken und christlichen Tugenden und Untugenden gehofft hatte, wurde an der Schwelle von der Spätantike zum Frühmittelalter vom Kirchenvater Augustinus von Hippo eines Anderen belehrt: „Die Tugenden der Heiden“, erklärte Augustinus um 420 in seinem Gottesstaat, „sind nur glänzende Laster.“

Jahrzehnte nach dem Ende des Trojanischen Krieges

Leonardo da Vinci notiert frei nach Ovids Metamorphosen: „Als Helena in den Spiegel blickte und ihre welke Haut mit den Falten sah, die das Alter in ihr Gesicht gegraben hatte, weinte sie und konnte kaum glauben, dass sie in ihrem Leben zweimal entführt worden war.“

Ein irischer Mythos

Hätten die alte oder uralten Griechen schon das Kartenspiel gekannt, wäre uns wahrscheinlich ein Mythos überliefert worden, bei dem es darum gehen würde, dass ein Götter-Trio, sagen wir: Zeus, Poseidon und Hermes, beim Kartenspiel sitzt und plötzlich, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Stapel Karten ein Hase, gefolgt von einem Jagdhund, hervorspringt, wobei der Hase einer zu sein hätte, den kein Jagdhund erjagen und der Jagdhund einer wäre, dem kein Hase entwischen kann – wir kennen das Dilemma aus einer anderen, tatsächlich tradierten Geschichte. Wegen der zivilisations- und kulturhistorischen Entwicklung der Spiele-Hardware war es aber erst dem irischen Schriftsteller W. B. Yeats vergönnt, die Geschichte vom Hasen und dem Hund zu notieren und in einem Sammelband mit dem Titel Mythologies zu veröffentlichen. Aber kann man eine von einem kauzig-exzentrischen, in Armut dahinvegetierenden irischen Häusler gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts erzählte Geschichte einen Mythos nennen? Wenn es für Yeats Mythen waren, warum nicht auch für uns.

Nichts als stereotype Grundsituationen und kein Ende in Sicht

Nicht wenige meinen, unser anhaltendes Interesse an den alten Geschichten könne man auf den nicht näher erläuterten Begriff der menschlichen Grundsituation bringen. Dem pflichte ich bei. Gestern erst habe ich meinem Zwillingsbruder den Tod gewünscht, war mit meiner Tochter im Bett und habe auf dem Nachhauseweg das Monster erschlagen, das mein Nachbar an der Leine führte und seinen treusten Freund, von ihm liebevoll Zerberus gerufen, nannte.

Je reicher die Überlieferung, desto mannigfaltiger die Varianten

Die Altphilologin Ilse Becher stellt fest, dass wir „von Theseus in vielen Werken unterschiedlicher literarischer Genera eine reiche Überlieferung in mannigfachen Varianten“ besitzen. Einer der ersten Grund- und Haupt-Sätze der Mythographie könnte demnach lauten: Je reicher die Überlieferung, desto mannigfaltiger die Varianten.

Antiker Reliquien-Kult

Dass von den Knochen der Heroen, ganz gleich, ob es sich bei letzteren um die heiligen Helden des Krieges um die Seelen der Gläubigen oder um solche des profanen Kampfs um irdische Güter handelt, eine positive magische Wirkung ausgeht, derer man sich nach Möglichkeit versichern sollte, ist nicht erst eine Entdeckung der christlichen Reliquien-Kunde, sondern war schon jenen Athenern bekannt, die im fünften Jahrhundert vor Christus die mutmaßlichen Gebeine des Theseus von der Insel Skyros nach Athen überführten.

Denn kein Geringerer als der mythische Held Theseus, der den Minotauros getötet und möglicherweise Poseidon zum Vater oder Hephaistos zum Ururgroßvater hatte, war es nach Augenzeugenberichten gewesen, der den Griechen in der Schlacht bei Marathon 490 vor Christus in ihrem siegreichen Kampf gegen die Perser auf mysteriös-spukhafte Weise leibhaftig beigestanden hatte.

Wir legen uns ein Adonisgärtchen an

Wer übrigens nach Anfang Juni, also vor der sogenannten Sommersonnenwende, noch kein Adonisgärtchen hat, sollte sich umgehend eines anlegen. Man benötigt dazu nur einen mit Erde gefüllten Blumentopf oder Balkonkasten. Dahinein säe man die rasch keimenden Samen einiger schnell ins Kraut schießender und alsbald wieder vergehender Pflänzlein – in jedem Baumarkt kann man sie bekommen. (Man sage aber der Verkäuferin, falls man eine findet, nicht, dass man die Samen in einem Adonisgärtlein aussäen wolle. Sie würde einen nur verständnislos ansehen oder, so man männlichen Geschlechts und nicht ihr Typ ist, Anzeige wegen sexueller Belästigung erstatten.) Die symbolische Bedeutung eines Adonis-Topf-Gartens liegt ebenso auf der Hand wie auf der Zunge, ich sage hier nur: Werden und Vergehen.

Der bildhübsche Adonis war nämlich auch kaum geworden, als er schon wieder verging, jedoch nicht ohne dass Aphrodite und Persephone Gelegenheit gefunden hätten, sich in ihn zu verlieben und um ihn zu zanken. Zeus sprach ein Machtwort und sagte zu dem frühreifen Bürschlein: Bis drei wirst du ja wohl schon zählen können. Also verbringst du ein Drittel des Monats bei Aphrodite im siebten Himmel der Liebe, während des zweiten Drittels lässt du dir von Persephone die lauschigsten Winkel des Hades zeigen und im letzten Drittel machst du, was du willst. Aber geh nicht in den Garten des Ares, denn das wäre für dich mit Einsichten und Erkenntnissen verbunden, die du dir so lange wie möglich ersparen solltest.

Nachdem Adonis wie befohlen erst zehn Tage und Nächte bei Aphrodite und dann von ihm geschätzte 240 Schäfer-Stunden im Halbdunkel der Herrin der Unterwelt verbracht hatte, ging er natürlich schnurstracks in den verbotenen Garten des Kriegsgotts Ares, wo dieser als der gehörnte Beischläfer der Aphrodite (welche bekanntlich dem Hephaistos vermählt war) in Gestalt eines wilden Gärtners hinter einer Eberesche auf den Liebhaber seiner Geliebten wartete, um diesen erst niederzumähen und anschließend durch den Häcksler zu jagen.

Franz Schubert: Amphiaraos (D 166)

Vor Thebens siebenfach gähnenden Toren
Lag im furchtbaren Brüderstreit
Das Heer der Fürsten zum Schlagen bereit,
Im heiligen Eide zum Morde verschworen.
Und mit des Panzers blendendem Licht
Gerüstet, als gält‘ es, die Welt zu bekriegen,
Träumen sie jauchzend von Kämpfen und Siegen,
Nur Amphiaraos, der Herrliche, nicht.

Denn er liest in dem ewigen Kreise der Sterne,
Wen die kommenden Stunden feindlich bedrohn.
Des Sonnenlenkers gewaltiger Sohn
Sieht klar in der Zukunft nebelnde Ferne.
Er kennt des Schicksals verderblichen Bund,
Er weiß, wie die Würfel, die eisernen, fallen,
Er sieht die Moira mit blutigen Krallen;
Doch die Helden verschmähen den heiligen Mund.

Er sah des Mordes gewaltsame Taten,
Er wußte, was ihm die Parze spann.
So ging er zum Kampf, ein verlor’ner Mann,
Von dem eig’nen Weibe schmählich verraten.
Er war sich der himmlischen Flamme bewußt,
Die heiß die kräftige Seele durchglühte;
Der Stolze nannte sich Apolloide,
Es schlug ihm ein göttliches Herz in der Brust.

„Wie? – ich, zu dem die Götter geredet,
Den der Weisheit heilige Düfte umwehn,
Ich soll in gemeiner Schlacht vergehn,
Von Periklymenos‘ Hand getötet?
Verderben will ich durch eigene Macht,
Und staunend vernehm‘ es die kommende Stunde
Aus künftiger Sänger geheiligtem Munde,
Wie ich kühn mich gestürzt in die ewige Nacht.“

Und als der blutige Kampf begonnen,
Und die Eb’ne vom Mordgeschrei widerhallt,
So ruft er verzweifelnd: „Es naht mit Gewalt,
Was mir die untrügliche Parze gesponnen.
Doch wogt in der Brust mir ein göttliches Blut,
Drum will ich auch, wert des Erzeugers, verderben.“
Und wandte die Rosse auf Leben und Sterben,
Und jagt zu des Stromes hochbrausender Flut.

Wild schnauben die Hengste, laut rasselt der Wagen,
Das Stampfen der Hufe zermalmet die Bahn.
Und schneller und schneller noch rast es heran,
Als gält‘ es, die flüchtige Zeit zu erjagen.
Wie wenn er die Leuchte des Himmels geraubt,
Kommt er in Wirbeln der Windsbraut geflogen;
Erschrocken heben die Götter der Wogen
Aus schäumenden Fluten das schilfichte Haupt.

Doch plötzlich, als wenn der Himmel erglühte,
Stürzet ein Blitz aus der heitern Luft,
Und die Erde zerreißt sich zur furchtbaren Kluft;
Da rief laut jauchzend der Apolloide:
„Dank dir, Gewaltiger, fest steht mir der Bund.
Dein Blitz ist mir der Unsterblichkeit Siegel;
Ich folge dir, Zeus!“ – und er faßte die Zügel
Und jagte die Rosse hinab in den Schlund.

Theodor Körner (1791-1813)