In seiner Griechischen Mythologie (1854) nennt der Altphilologe Ludwig Preller den „Zeuscultus […] die centralisierende Mitte der gesamten griechischen Götterwelt“. Wer einmal mehr (oder auch wie zum ersten Mal) die Götterkugel, also das offenbar kugelförmige Götternetzwerk nachzeichnen (und womöglich auch nach-zeichnen) wollte, könnte immer wieder gleichzeitig eine Unzahl von Fliegen mit ein und derselben Klappe schlagen, wenn er die Centralmacht Zeus in serienmäßiger Variation ins Centrum des Interesses rücken würde.
Ludwig Preller über die Bildlichkeit der Mythen und das Prinzip der Übertragung
In Ludwig Prellers zu Lebzeiten einbändigem, posthum dann zweibändigen Werk über Griechische Mythologie (1854, 1860 und später) findet sich als eines der einleitenden Kapitel diese Passage (Hervorhebungen in Kursivschrift von mir, M.):
„1. Der Inhalt im Allgemeinen.
Der Inhalt der griechischen Mythen [eigentlich Reden, Erzählungen] ist ein überaus mannichfaltiger, je nach dem Alter und der Stufe der Mythenbildung welcher sie angehören. Der ältesten Zeit entsprechen jene grandiosen Bilder einer einfachen, aber seelenvollen Naturanschauung, wie man ihnen besonders unter den Göttermythen begegnet, in dem Culte des Zeus, der Athena, des Apollon, des Hermes u. A. Die elementaren Kräfte und Vorgänge der Natur, Sonnenschein, Regen, der Blitz, das Fließen der Ströme, das Wachsen und Reifen der Vegetation, werden dabei als eben so viele Handlungen und wechselnde Zustände beseelter Wesen vorgestellt und in bildlichen Erzählungen ausgedrückt, welche noch zwischen Allegorie und Mythus schwanken, so daß sie oft den Eindruck von dichterisch ausgeführten Hieroglyphenmachen. Jedenfalls gehören sie zu dem Schönsten von Naturpoesie was es geben kann, und sie zeugen von einer so tiefinnigen Sympathie zwischen der menschlichen Seele und dem Naturleben, wie sie in unsern civilisirten Tagen höchstens der Dichter oder der begeisterte Naturforscher empfindet. Eine eigenthümliche Wendung solcher Dichtungen ist diese, daß die auffallenden Wirkungen und Erscheinungen der Natur nicht selten unter dem Bilde von Thieren vorgestellt werden, deren Gestalt, Gemüthsart oder Bewegung einen verwandten Eindruck machte, womit wir uns also auf dem Wege zur orientalischen Thiersymbolik befinden. Indessen darf von dem griechischen Volk vorausgesetzt werden daß es sehr bald den Fortschritt zur vollkommenen Vermenschlichung der Götter gemacht hat, wie sie zum Wesen des Mythus in seiner engeren Bedeutung gehört und gerade den griechischen Polytheismus eigentümlich characterisirt. Nun wurde die Gestalt der Götter nach Anleitung des sinnlichen Eindrucks gedacht den eine Naturerscheinung machte, ihr Character nach Anleitung der begleitenden Empfindung, wie z. B. die Klarheit des Himmels zur Vorstellung von Einsicht und Reinheit, seine Donner und Blitze zu der von gebietender Weltherrschaft, seine Wolken und Stürme zu der von Streit und Unfrieden, der daraus niederströmende Regen zu der von zeugerischer Kraft und Ueppigkeit führte. Und indem man diese Götter als menschlich geartete Wesen zugleich um das menschliche Leben besorgt und für dasselbe bedacht glaubte, kam man weiter dahin einem jeden seinen bestimmten Antheil an dieser Fürsorge zuzumessen, wie sie zu seinem bildlichen Character paßte, wie z. B. Zeus als der Herrschende das Königthum überhaupt vertritt, seine Gemahlin, die strenge und eifersüchtige Himmelskönigin für alle Rechte der Ehe eintritt, Athena die stürmische und kriegerische in der Schlacht waltet, Poseidon als Gott der gleichsam galoppirenden Wellen zugleich zu dem Gotte der Pferdezucht und zu dem ritterlichen Gotte schlechthin geworden ist: Uebertragungen bei denen wir die Kühnheit und Anmuth des Fortschritts von einer Gedankenreihe zur andern nicht genug bewundern können, obwohl wir etwas Aehnliches auch an den Schöpfungen der Sprache und den verschiedenen Bedeutungen jedes älteren Wortstamms beobachten, dessen Geschichte gleichfalls die einer fortlaufenden Reihe von Uebertragungen eines elementaren sinnlichen Eindrucks auf immer entlegnere und künstlichere Vorstellungen zu sein pflegt. Weiter wurde, wie dieses gleichfalls bei den Wörtern zu geschehen pflegt, bei fortschreitender Entwicklung die erste Naturempfindung oft vergessen und nur das ethische Bild von Muth und Kraft, Schnelligkeit und Jugend, Schönheit oder Klugheit festgehalten und in entsprechenden Erzählungen ausgeführt, womit wir uns schon auf dem Boden der Heldensage befinden. Wieder andere Stufen und Metamorphosen der Mythenbildung ergeben sich daraus daß diese bildlichen Erzählungen mit der Zeit zu dem Stoffe und historischen Hintergrunde der gesammten Poesie und Kunst wurden, welche eine Menge der schönsten ästhetischen Motive darin vorgebildet fanden und je nach ihren besondern Zielen und Gattungen daraus weiter fortentwickelten, wie denn auch in dieser Hinsicht die griechische Mythologie einzig in ihrer Art und so durchgebildet wie keine ist. Endlich kamen die Gründer und Gesetzgeber der Staaten, die Theologen und Philosophen, die Geschichtsforscher, die Geographen, die Astronomen, alle bei jenen Sagen und Dichtungen der Vorzeit anknüpfend und sie nach ihrer eigenthümlichen Weise auffassend, erklärend, umbildend, so daß sie immer von neuem überarbeitet und auf einen neuen Inhalt übertragen wurden. Kurz es läßt sich nichts Mannichfaltigeres und Wandelbareres denken als diese griechischen Mythen, daher sich etwas allgemein Gültiges auch weder von ihrer Form noch von ihrem Inhalte sagen läßt. Von ihrer Form nur etwa dieses, daß sie unter allen Abwandlungen doch immer eine bildliche bleibt, mag sie nun als Mythus oder als Sage, als Märchen oder als Legende oder unter welcher Gestalt sonst auftreten: von ihrem Inhalte, daß sich in ihnen die verschiedensten Elemente, thatsächliche und ideale, und zwar unter den verschiedensten Bedingungen und Anregungen immer von neuem mischen und gestalten. Eben deshalb ist nichts verkehrter als in der Mythologie überall nur einen und denselben Inhalt zu suchen, sei es ein physischer oder ein ethischer oder ein historischer.“